Wien ist bekannt für seine Lebensqualität, ob reich oder arm, die Stadt bietet jedem etwas. Vor allem aber rühmt sie sich sozial zu sein, das liegt ihr im Blut. Vor mehr als hundert Jahren setzte sich bei den ersten freien Wahlen zum Wiener Gemeinderat die Sozialdemokratische Arbeiterpartei durch. Diese hatte für ihr „Proletariat“ viel vor und errichtete zigtausende leistbare Wohnungen sowie zahlreiche Sozial-, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Die Menschen dankten es ihnen und wählten seitdem, mit kurzer „Naziunterbrechung“, rot, also sozialdemokratisch.
Mittlerweile kümmert sich nicht nur diese Partei um das Wohl der Unterschicht, sondern auch einige gemeinnützige Vereine.
Von der armen Mittelschicht…
Einst befand ich mich in der Mittelschicht. Es war ein Leben, wie man es sich in dieser Kaste vorstellt: ich hatte einen Job, der nur die Lebenserhaltungskosten, inklusive ein bis zwei Take-Away Restaurantbesuche im Monat sowie ein bisschen Urlaub deckte. Geld ansparen für ein Eigenheim war bei den ständig stark steigenden Immobilienpreisen nicht möglich.
Ein Ex-Kollege meinte „in der Mitte ist es beschissen“. Diese Aussage machte er nachdem er meine Abteilung verließ und zum Vorstandsmitglied in einer anderen Firma aufstieg. Ich selbst brauchte etwas länger bis ich der Mittelschichtfalle entfliehen konnte. Jedoch wählte ich eine andere Richtung.
…in die wohlhabende Armut
Kurz vor Corona endete mein Angestelltenverhältnis und das Virus trübte die Aussicht auf ein neues. Es musste also gespart werden. Dank Pandemie konnte ich bei den Urlaubskosten sparen, den größten Kostenblock bildeten, neben der Miete Lebensmittel. Aufgrund des geringeren Einkommens öffneten sich jedoch neue Türen, mir war es nun erlaubt die Räumlichkeiten von Sozialmärkten, welche von gemeinnützigen Vereinen betrieben werden, zu betreten. Dort findet man eine große Auswahl an Konsumgütern, manche über dem Ablaufdatum, die günstig erworben werden können, oft werden sie sogar verschenkt.
Wie ich bei meinem ersten Besuch erkennen konnte, war die Klientel bunt gemischt und sehr preisbewusst, es wurde um Centbeträge gefeilscht, Produkte, die über zwei Euro lagen, erzeugten bei manchen Kunden auch Wutanfälle. Nichtsdestotrotz waren die Einkäufer zufrieden, einer strahlte sogar, als er für einen prallgefüllten Einkaufswagen nur acht Euro berappen musste.
Leider war ich an diesem Tag mit dem Fahrrad unterwegs und konnte keine großen Mengen befördern, deshalb beschloss ich beim nächsten Mal mit dem Auto zu kommen.
Mein Fahrzeug ist sechzehn Jahre alt und somit fast nichts mehr wert, dennoch war es mir nicht recht mit meinem fahrbaren Untersatz gesehen zu werden und parkte weiter von dem Geschäft entfernt, ich wollte keinen Neid bei den mittellosen Menschen auslösen.
Meine Umsicht konnte ich mir aber sparen, als ein gut gekleideter alter Herr mit einem neuen E-Klasse Mercedes vor dem Supermarkt vorfuhr, seine Sozialmarkt-Einkaufsberechtigung vorwies und vier abgelaufene Joghurts für 40 Cent kaufte.
Da dachte ich mir, so arm möchte ich mal sein!
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